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Rezension – 2030: Die Welt von morgen. Von Mauro F. Guillén

Der spanische Soziologe Mauro F. Guillén prognostiziert für unsere nahe Zukunft bis 2030 weitreichende und weltweite Veränderungen, ohne dabei Untergangsszenarien zu prophezeien. Fast schon ist das Gegenteil der Fall: Guillén versetzt den Leser keineswegs in Angst, sondern zeichnet mit wissenschaftlichen Argumenten, welche er aus seiner umfangreichen Quellensammlung extrahiert, erfolgreiche Wege auf. Jetzt schon sei eine nicht ganz unwichtige Sache verraten: Der Leser wird während der Lektüre überrascht sein von der Fülle erstaunlicher Prognosen, die für jeden von uns bald schon relevant sein werden.

 

Die bisherige chinesische Bevölkerungsexplosion sei zwar durch die dort lange praktizierte Ein-Kind-Politik gestoppt worden, jedoch sieht er das jetzige Ungleichgewicht von etwa 20 Prozent mehr jungen Männern als Frauen als Folge von favorisierten Jungen bei chinesischen Kinderwünschen. Weltweit nimmt der Anteil der Frauen aber bedingt durch ihre höhere Lebenserwartung gegenüber Männern zu.

Für ganz Amerika, China, Europa und Südostasien prognostiziert der Autor einen bereit kurzfristigen deutlichen Rückgang der Bevölkerung, wenn die Bereitschaft zur Aufnahme von Migranten nicht weiter zunimmt. 72 Prozent der weltweiten Migranten sind in einem arbeitsfähigen Alter, aber nur 58 Prozent der Gesamtbevölkerung.

US-Daten zeigen seit 1990 einen anhaltenden Trend von zunehmenden Anteilen von Migranten an der Arbeitnehmerschaft. In den USA sind dies fast 50 Prozent, in Europa  rund 70 Prozent. In den USA und Europa stieg in den letzten 20 Jahren das Verhältnis zwischen den von Migranten geleisteten Steuern und durch sie empfangenen Sozialleistungen ständig an. Der Autor postuliert für die USA für 2030 weniger als 50 Prozent nicht-hispanische Weiße in der Bevölkerungsgruppe von 15- bis 34-Jährigen.

Bei den Gruppen der Migranten besonders in zweiter und dritter Generation geht er von einem weiterhin ungebremsten Trend aus, den amerikanischen Traum vom eigenen PKW und Haus anzustreben. Bei geringerer Kaufkraft dieser Gruppe werden eher Fahrdienst- und Home-Sharing-Apps genutzt werden als von Angloamerikanern, so der Autor.

 

China? China!

Besonders in China wird ein rasanter wirtschaftlicher und demographischer Wandel bis 2030 eintreten. So werden es 60 Millionen Menschen weniger zwischen 15 und 34 Jahren, aber 114 Millionen mehr über 60 Jahre als 2020. Dazu kommt eine anhaltende Landflucht, wobei Ältere auf dem Land zurückbleiben. Die Kinder werden viel häufiger weit weg leben. Dadurch entsteht eine noch zu meisternde Herausforderung, diese alternde Landbevölkerung ortsnah in altersgerechte Strukturen einzubinden.

Chinesischen Millennials, die zwischen 1980 und 2000 geborenen wurden, sparten bisher dreimal mehr als amerikanische Altersgenossen, diese Vermögen sind teilweise den USA kreditiert. Aber auch der chinesische Sparwillen ist rückläufig, auch die jungen Chinesen tendieren vermehrt zum Konsum und Kurzzeitkrediten. Den zukünftigen Drang der chinesischen demographischen und sozialen städtischen Mittelschicht nach Individualisierung oder auch nach Demokratisierung sowie den Erhalt der sozialen Zufriedenheit wagt der Autor nicht zu prognostizieren.

Auch Guillén kann die Einstellung der heutigen Millennials im späteren Alter nach 2030 schwer eingrenzen und hält sie weltweit für nicht eindeutig absehbar. Sie sind die erste Generation mit Internetzugang in der gesamten Kindheit, ihre Neigung zur erweiterten Kommunikation werden sie im Alter beibehalten. Diese Generation hat mehr spezifische Berufsabschlüsse oder Hochschulabschlüsse als vorhergehende Generationen. Diese Gruppe wird im Alter aktiver bleiben als ihre Vorgänger.

Die weltweit führenden Marken werden sich weniger an den Vorlieben der westlichen Mitteschichten orientieren sondern mehr den Bedürfnissen in Mumbai, Shanghai und Nairobi.

Westeuropa, Japan und den USA gelang bisher die Verteilung erwirtschafteter Vermögen auf eine Mittelschicht. Dies ist jetzt nicht mehr der Fall, die Kaufkraft der amerikanischen, japanischen und europäischen Mittelschichten stagniert und wird sich bis 2030 reduzieren, während jene der chinesischen, indischen und asiatischen ehrgeizigen Mitteschichten steigen werden, mit Verzögerung auch die einer afrikanischen Mitteschicht. Diese postglobale Wirtschaft wird besonders die alte westliche Mitteschicht zu spüren bekommen. Die Mittelschicht der heutigen Schwellenländer wird sich bis 2030 verdoppeln und macht dann zahlenmäßig ein Mehrfaches aus als die der westlichen Welt. Die weltweit führenden Marken werden sich weniger an den Vorlieben der westlichen Mitteschichten orientieren sondern mehr den Bedürfnissen in Mumbai, Shanghai und Nairobi.

 

Die soziökonomische der Geschlechter

 

Die soziökonomische Stellung der Frauen ändert sich bis 2030 rasch. Zudem werden Frauen älter als Männer. Daher sagt der Autor einen weiterwachsenden Wohlstand für Frauen voraus, die Folgen auf die Wirtschaft sind nicht eindeutig absehbar. Ausgaben für Erziehung, Gesundheit und Versicherungen werden unter zunehmender finanzieller weiblicher Verantwortung steigen. Der Autor präzisiert hier knapp: „Es ist kaum übertrieben zu behaupten die Krise 2008 hätte vermieden werden können, hätten wir statt der Lehman Brothers die Lehman Sisters gehabt.“ Der dänische Soziologe Esping-Andersen wird zitiert, indem die zunehmende Einbeziehung der Frauen in die Erwerbsbevölkerung bei jenen Dienstleistungsaktivitäten einen Wachstumsschub auslöst, die Frauen bisher ohne Bezahlung im Hause verrichteten. Südasien, Afrika und der Nahe Osten werden ebenfalls ein beschleunigtes Wachstum erleben. Gleichzeitig mit der Einbindung von Frauen in die Gesundheit gefährdende Industriearbeitsplätze wird sich die Lebenserwartung von Frauen und Männern nach 2030 angleichen.

 

Noch mehr Zukunft

Guillén prophezeit bis 2030 weltweit ein allerdings langsam zunehmendes Aufrücken von Frauen in leitende Positionen. Durch den zunehmenden Einfluss des weiblichen Geschlechts hält er sogar eine Transformation der Machtstrukturen für möglich. Weniger Gewalt, weniger Skandale und weniger Korruption.

Während die Städte stark wachsen und der Hunger auf der Welt weiter rückläufig sein wird, nimmt das Adipositas-Problem mit etwa 1,1 Milliarden adipöser Menschen zu. Sie werden die Zahl der auf ca. 200 Millionen geschätzten Hungernden bei weitem übersteigen. Schon heute beträgt die menschliche Körpermasse der Amerikaner 18 Prozent der Weltbevölkerung, obwohl dort nur 4 Prozent  aller Menschen leben. Mit solchen Zahlen gelingt es dem Autor immer wieder, den Leser so zu erden, dass er Westeuropa und die USA nicht mehr für den Bauchnabel der zukünftigen Welt hält.

Nudging wird von ihm als große Chance der nächsten Jahre in Bezug auf den CO2-Abdruck und der Wasserwirtschaft gesehen. Nicht in Strafen, sondern in einem libertären Paternalismus sieht der Autor unsere Chancen, Menschen dazu zu ermutigen, positive Gewohnheiten auszubilden. Naturkost, schadstoffärmere Bewegungsmittel, Konsumeinschränkungen und Recyclingprogramme sollen moralische Verpflichtung werden. Die eigene Stromrechnung könnte mit der durchschnittlichen im gesamten Viertel verglichen werden. Dabei wird eine kreative Klasse der Erwerbsbevölkerung beschrieben, die den gesellschaftlichen Wertewandel mit säkular-rationalen statt traditionell Präferenzen und dem Streben nach Selbstverwirklichung statt Selbsterhaltung betreibt. „Auch wenn die Hälfte aller Menschen zurzeit noch traditionell leben und notgedrungen um das bloße Überleben kämpfen“.

Er beschreibt diesen Prozess der raschen industriellen Mutation als eine menschliche Kraft, welche bereits seit der Agrarevolution vor 12.000 Jahren das menschliche Leben immer neu formt, in immer kürzeren Abständen.

Auch die anhaltende technische Revolution führt bis 2030 zum Einzug der Computer in wirklich alle Strukturen. Es gibt dann mehr Computer als menschliche Gehirne und mehr Roboterarme als Arbeiter. Hier wird Guillén philosophisch. Er beschreibt diesen Prozess der raschen industriellen Mutation als eine menschliche Kraft, welche bereits seit der Agrarevolution vor 12.000 Jahren das menschliche Leben immer neu formt, in immer kürzeren Abständen. Der Autor geht nicht von einer Apokalypse durch die Übernahme der globalen Kontrolle durch KI, also die künstliche Intelligenz aus. Aber er beschreibt die nahende Revolution der KI durch Übernahme bisher menschlicher Routinetätigkeiten wie Büro- und Verwaltungsaufgaben. Er glaubt an intelligente Maschinen, die bereits in Kürze juristische Rechtsfälle vorbereiten, chirurgische Routineeingriffe vornehmen und Vorlesungen vor Studenten halten.

 

Über 3D-Drucker

Eine weitere rasche Veränderung unserer Welt sieht der Autor durch den 3D-Drucker. Durch ihn kann  Ware durch weniger Material vor Ort hergestellt werden. Statt auf Vorrat kann nach Bedarf in der Nähe der Verbraucher produziert werden. Der Frachtverkehr, welcher für ein Viertel aller CO2-Emissionen verantwortlich ist, wird so reduziert. Weiterhin bekommt der Leser die Vorteile der Nanotechnologie vermittelt. Sie arbeitet mit Teilchen, welche bis zu 400 Millionstel Zentimeter klein sind und welche programmierbare Materie möglich machen wird. Ein Pullover mit Eigenschaften ähnlich menschlicher Poren, im Sommer kühlt, im Winter wärmt dieses Kleidungsstück und dazu kann der Besitzer seine Farbe nach Belieben wechseln. Nanotechnologien kann Mauerwände durch effizienteste energetische Eigenschaften dünnhalten. Programmierbare Materie ist dann der nächste Schritt, ein Werkzeugkasten wird durch ein einziges Stück programmierbare Materie ersetzt. Selbst im menschlichen Körper können Nanoroboter Moleküle gezielt transportieren, um Krankheiten anzugehen.

 

Über Millenials

Guillén sieht die jetzigen Millenials mit ihren neuen Trends, weg von einer Kultur des Ichs hin zu einer des Wir. Es wird mehr geteilt, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischen, Räume werden geteilt. Prestigeträchtiger ist die Familie ohne eigenes Auto. Apps machen das Teilen möglich. Der Erfolg der Sharing Economy wird anhalten. Die Einstellungen der neuen „Sharing Class“ und die Möglichkeiten der Kooperationen miteinander lassen Eigentum, den wichtigste Grund für Ungleichheit, fast alt aussehen. Die neuen Optionen der Sharing-Industrie kommen besonders denen mit geringerem Einkommen zugute. Weiter baut der Autor die möglichen Szenarien aber nicht aus, die Gedanken der Leser sind aber entsprechend gelenkt.

 

Frau schaut nach oben

 

Anschließend wird die Zukunft uns neue sich selbst ausführende Registrierungsfunktionen eröffnen. Durch die Blockchain-Technologie könnte sogar die Bürokratie entflochten werden. Blockchain ist ein Buchhaltungssystem mit nicht löschbaren Aufzeichnungen in einem digitalen Register, zu dem viele Computer Zugang haben. Diese verifizieren jeden einzelnen Vorgang und speichern eine identische Kopie davon. So arbeitet der Bitcoin-Blockchain. Nicht mehr zentrale Eliten würden dann alles verwalten, sondern die dezentrale Verwaltung mit digitalen Zertifikaten würde die Nutzer unabhängig von Banken und Verwaltungen machen. U.a. politische Entscheidungen könnten so ohne hierarchische Strukturen getroffen werden, auch alle  gemeinsam über vernetzte Strukturen. Erste Ideen, also Erfindungen könnten direkt in einen Blockchain gestellt werden.

In manchen Themen sind die Ausführungen von Guillén etwas langatmig geraten, manche Themen wiederholen sich aus einer anderen Perspektive. Aber für die ganz schnellen gibt es ja die obige Zusammenfassung. Wer Antworten auf zukünftige politische Konstellationen erwartet, könnte ein wenig enttäuscht werden. Auch vermisst man ein eigentlich großes Thema, die Entwicklung der Landwirtschaft und die Novel Food als zukünftiger Proteinlieferant mit pflanzlichen Imitationen von Fleisch und Fisch. Überraschend für den Leser dürfte aber die Ausführungen über die Bedeutungen der Entwicklungen in Afrika sein. Dort entsteht eine bis 2030 eine zahlenmäßig gewaltige soziale Mitteklasse auf einem riesigen Kontinent mit rasch steigender Bevölkerungszahl.

Und aus dem Schluss –
wird ein Fazit!

Im Kapitel „Schluss“ zeichnet der Autor 7 Grundätze auf, wie eine kluge Annäherung an die Zukunft möglich wird. Die Empfehlungen können auch Einzelne für sich umsetzen.

 

  1. Verliere das Ufer aus den Augen.

Die Chancen der möglichen Veränderungen müssen genutzt werden, möglichst sollten die Ängstlichen mitgenommen werden.

  1. Diversifiziere mit einem Ziel.

Um das Jahr 2030 zu meistern, müssen wir uns viele verschiedene Sichtweisen ansehen und viele frische Ideen einsammeln.

  1. Fange klein an, um erfolgreich zu sein.

Apples Herangehensweise basierte immer auf kleinen schrittweisen Veränderungen, dabei wurde immer bereits Bekanntes verbaut.

  1. Antizipiere die Sackgassen.

Keine alles oder nichts Entscheidungen, sondern Optionen bewahren. Wege sollten immer einen Ausweg haben.

  1. Bekämpfe Ungewissheit mit Optimismus.

Man kann auf dem Erfolg aufbauen oder sein Scheitern hinter sich lassen und von Neuem anfangen. Auch der Klimawandel beinhaltet die Möglichkeit zu handeln.

  1. Keine Angst vor Knappheit.

Die Steinzeitzivilisation blühte trotz Knappheit vor allem aufgrund Beharrlichkeit und Resilienz auf.

 

Der Autor beendet seine Hinweise mit Optimismus:

7. Mit alltäglicher Anpassung und lateralem Denken werden wir dem Ziel, den Klimawandel und andere globale Bedrohungen aufzuhalten, näherkommen – allerdings nur, wenn wir gleichzeitig umweltfreundlichere Verhaltensweisen praktizieren.



Dieter Mainka
10.01.2022

 

 

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