In Zeiten der Pandemie denkt der Psychoanalytiker und Philosoph Sergio Benvenuto in Italien über den Menschen und das Böse nach. Er beleuchtet unter anderem warum linke Gedanken mit Umweltparteien gut zusammenpassen.
Zuerst einmal weist der italienische Philosoph und Psychoanalytiker Sergio Benvenuto darauf hin, dass es unter den Philosophen eine Art Grabenkampf gibt, ob die Pandemie nun als eine „natürliche“ oder doch eher „soziale Tatsache“ betrachtet werden sollte. Die Pointe folgt auf dem Fuße, denn er selbst lehnt solche Betrachtungsweisen ab. Stattdessen begibt er sich auf die Suche nach dem „Bösem in unserer Tradition des Denkens“.
Böse & gut
Sergio Benvenuto betont, dass in der westlichen Philosophie das Bestreben – „nicht an das Böse zu glauben“– stets recht dominant war. Allerdings stellt er dem gegenüber, dass das Leben und die Welt nun einmal voller Schmerz, Ungerechtigkeit und Übel ist. Wiederum nimmt das Böse für viele Philosophien den Status einer Illusion ein. Letzteres gilt dabei neuerdings aber auch für die „Zeit an sich“. Zumindest in der Physik wird diese seit „neuester Zeit“ lediglich als eine weitere Illusion gehandelt.

In Zeiten der Pandemie denkt Sergio Benvenuto über den Menschen und das Böse nach. Der Philosoph und Psychoanalytiker kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.
Dies macht rein rechnerisch bereits mindestens zwei Illusionen, wobei Sergio Benvenuto diesen Gedankengang nicht wählt, sondern unterstreicht, dass seit Platon sich das westliche Denken darauf konzentriert, dass sich aus dem Guten eine Art Überstruktur bildet. „Gut ist realer als alles andere.“ Insofern existiert das Böse nur als Schein, Nicht-Realität und imaginäre Besetzung von der „guten Struktur“.
Ein ethisches Problem
Nach Benvenuto hat ein ethisches Problem die alte Dualität von Böse und Gut abgelöst: Demnach hat die Menschheit sich unter die Herrschaft zweier eigentümlich souveräner Meister gestellt, welche da Schmerz und Vergnügen heißen. Es sind dann diese, die vorgeben, was Menschen tun sollen. „Zum Teil wird der Mensch von etwas verführt, das sich nicht um sein Vergnügen oder Missfallen kümmert.“ Und bei diesem Etwas handelt es sich halt um das Böse.
Eine alte Faustformel hat ausgedient
„Je egoistischer die Menschen sind, desto glücklicher ist die Gesellschaft.“ Diese alte Faustformel hält der Autor für falsch. Er führt an, dass in vielen „elenden Gesellschaften“, also solchen, die wir heute Entwicklungsländer nennen, die Individuen zumeist egoistisch sind und die Gesellschaften insgesamt unglücklich. Er folgert: „Egoistisch sein, reicht nicht aus, um eine altruistische Gesellschaft zu bilden.“
Es bleibt die Frage, ob es Frauen und Männer wirklich lieben, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben und damit in einer, welche Bürgerrechte gewährleistet. Benvenuto weist auf persönliche Begegnungen mit Personen hin, die unter Schreckensregimen wie dem Faschismus oder Nationalsozialismus gelebt haben. Manche betonten, dass sie da glücklicher als heute waren – und dies „weil sie die damalige Gesellschaftsform mochten“. Der Philosoph und Psychoanalytiker Benvenuto folgert, dass es heute auch nicht viel anders ist. So verweist er auf den Umstand, dass nach militärischen Siegen des utilitaristischen Westens über Diktaturen wie Irak oder Libyen, die Westler zumeist nicht mit offenen Armen empfangen werden.
Die Rousseausche Konzeption
Nach Benvenuto durchdringt die Rousseausche Konzeption den Marxismus und einen Großteil der politischen Kultur, die wir heute „Linke“ nennen. Wiederum ist nach Rousseau nicht mehr Gott, sondern die Natur das Gute. Dies bedeutet aber auch, dass das Leiden der Menschen aus den Menschen selbst entstammt, die als Erfinder der menschlichen Kultur „eine böse Nicht-Natur konstruiert haben“.
Genauer betrachtet gehen aus dieser „menschlichen Kultur“ Umstände wie Privateigentum, Ungleichheiten, Sklaverei, Unterwerfung von Frauen oder die Verurteilung nicht normativer Sexualität hervor. All das ist sozusagen Böse und wiederum als menschliches Produkt einer entfremdeten Menschheit zu betrachten.
Wiederum siedelt der italienische Philosoph den Satz „wir werden alle frei und gleich geboren” eben hier an. Er unterstreicht, dass diese Aussage das eigentlich Fundament der Moderne bildet. Denn dieses „alle gleich” bedeutet eigentlich „wir sind alle gut!” Wiederum sind dann jene die Bösen, die das nicht verstehen wollen. Letzteres wäre nach Benvenuto dann auch der Grund, warum viele Intellektuelle das Wiederaufleben von Faschismus oder Rassismen als eine Folge der Unkenntnis der Massen einstufen.
Letztlich, so gibt der Autor zu denken, mag die Aussage, dass die liberalen und radikalen Ideen der Linken eigentlich aus dem Rousseauismus entstammen, dann doch einige überraschen. Benvenuto verweist darauf, dass es doch auffällig sei, wie viel Ökologie die Linke übernommen hat. Wiederum ist eine gewichtige Grundlage der Ökologie die implizite Annahme, „dass die Natur im Wesentlichen gut ist, während menschliche Gesellschaften dazu neigen, sie zu korrumpieren“.
Daher, so Sergio Benvenuto, „muss die menschliche Gesellschaft auch „natürlich” sein“. Andererseits erscheint es als recht schwierig, rechte Ökologen zu finden. Vielmehr findet sich in diesem politischen Spektrum die Vorstellung, dass es keinen Treibhauseffekt oder ähnliche natürliche Katastrophen gibt. Nach Benvenuto impliziert die sogenannte „rechte Metaphysik“, dass die menschliche Industrie gesegnet ist und die Natur nur geschaffen wurde, um von der menschlichen Produktivität ausgenutzt zu werden.
Das Thema Pandemie – nach Sergio Benvenuto
Vielen modernen Menschen fällt es nicht ganz einfach, die eigentlich simple Vorstellung zu akzeptieren, dass die Natur keinem göttlichen oder menschlichen Plan gehorchen muss. So sieht es zumindest Sergio Benvenuto. Anders gesagt: Die vorhandene Natur kann uns Freude und Wohlbefinden bereiten, aber eben auch uns zerstören. Letzteres führt dann zu einer starken Versuchung, menschliche Fehler als die wahre Ursache zu benennen – etwa von der Pandemie. Die Unschuld des Menschen wird also tendenziell ausgeschlossen. Manche sagen es dann auch so: Die Menschheit ist zu mächtig, um nicht schuldig zu sein.
Was ein Psychoanalytiker aus Italien
zum bösen Menschen zu sagen hat
War das Böse früher das Nichtsein, so wird es heute immer mehr zu dem, was das Wesen des Menschen ausmacht. Diese Umkehrung führt einerseits zu einer moralischen Verurteilung der gesamten Menschheit, andererseits aber auch zu ihrer Erhöhung. Diese Satanisierung des Menschen wird wiederum in vielen modernen Philosophien bekräftigt, die den Menschen und insbesondere seinen Geist als Bruch in der Positivität der Natur betrachten.
Der Mensch bringt das Negative in die Welt, daher das Böse an sich. Der Philosoph Benvenuto verweist an dieser Stelle auf einen sehr originellen und ebenso wichtigen Punkt: Was derzeit geschieht, ist eine „Wiederherstellung des Mythos der Erbsünde: Frau und Mann humanisieren sich im Bösen, ihre Humanisierung erzeugt das Böse in der Welt“.
Menschliche Monster & faszinierendes Böses
Aufgrund des bisher Geschilderten hält es Sergio Benvenuto für keinen Zufall, dass moderne Literatur, Theater und Kino mit Figuren menschlicher Monster gefüllt sind. In diese Sparte rückt er auch die rückwirkende Verehrung des Marquis de Sade wie auch das Böse in Blanchot wie auch Foucaults Pierre Rivière. Als ein Fazit schließt er, dass der Mensch „jenseits von Gut und Böse” augenscheinlich eine Faszination ausübt. Da ist also ein „vibrierender Verdacht, dass das Böse das eigentliche Meisterwerk des Menschen ist“.
Die Pandemie.
Die endliche Welt und der böse Mensch
Seine Technik und Sprache lässt den Menschen den Planeten zerstören – und damit sich selbst. Der Autor, seines Zeichens Philosoph und Psychoanalytiker, nennt den Zustand der Menschheit sogar ein „Exil vom Sein“. Daneben endet er mit einer mindestens doppeldeutigen Feststellung, „dass das Böse die Wahrheit des Menschen ist“. Die menschlichen Technologien führen zur Zerstörung des Planeten und damit der Menschheit selbst. Andererseits ist da aber erst einmal eine Art verzweifelte Freiheit, eine, die nicht aufhört, den Menschen zu verführen. Was nach diesen bedenkenswerten Worten noch zu sagen bliebe, wäre möglicherweise ein sehnsuchtsvolles „Amen“ – aber dieses unterlässt der Autor tunlichst.
Pandemie? Oder die Frage, ob die Krise für eine Gesellschaft ein Medikament ist
In einem Ende Juni 2020 veröffentlichten Essay schildert Sergio Benvenuto verschiedene Fälle aus der eigenen Praxis. Alle standen bereits vor der Coronavirus-Krise lange Zeit unter Selbstquarantäne. Insofern hatten diese Menschen seit Monaten oder Jahren das eigene Zuhause nicht mehr verlassen. Dabei hatten sie nicht Angst vor Freiflächen, sondern vor anderen Menschen beziehungsweise dem Schieben und Schubsen innerhalb einer Menge. Der Autor weist daraufhin hin, dass diese Personen heute ihre Phobien überwunden haben – und während der realen Krise durch Corona zumeist souverän reagier(t)en. Da ist zum Beispiel eine Frau, die einmal überzeugt war, dass sie sich in Bussen mit AIDS infizieren würde. Jetzt tröstet sie ihre Mutter, die nie eine Phobie hatte, nun aber aufgrund der Pandemie verzweifelt ist. Ein Mann, der zuvor unter der Angst litt, auf Personen aus der Nachbarschaft zu treffen, geht jetzt für eben diese einkaufen. Letzteres ganz ohne Handschuhe oder Gesichtsmaske.
Schließlich schildert der Psychoanalytiker umfassend den Fall einer an Schizophrenie erkrankten Frau. Diese hatte als einzige vor einem angekündigten Erdbeben souverän reagiert und äußerst vorausschauend gehandelt. Letztlich scheint es Sergio Benvenuto so, als hätte hier ein neues Trauma ein altes geheilt – zumindest für die Zeit der neueren Krise. Der Autor führt an, dass so, wie Napoleon nicht ohne Krieg leben konnte, sich jene Frau, deren Kindheit von Bombenangriffen des Krieges geprägt war, innerlich so strukturiert hatte, dass sie ausschließlich in einer Welt der Angst lebte. Ihre Ticks signalisierten nichts anderes, als ihre Unfähigkeit in einer geschützten Welt (welche der sie liebende Vater um sie herum aufgebaut hatte) zu leben. Der Autor, seines Zeichens Psychoanalytiker, kommt zu der abschließenden Frage, ob viele Formen „des Wahnsinns nicht durch einen mildernden Mangel an Traumata verursacht“ werden. Seine letztliche Frage lautet leicht abgewandelt: Sind also Katastrophen für manche Menschen dann Medikamente – und für andere nicht?
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Sergio Benvenuto
Sergio Benvenuto (* 1948) ist ein italienischer Schriftsteller, Philosoph und Psychoanalytiker. Er forscht am Institut für Kognitionswissenschaften und Technologien in Rom (ISTC). Zudem ist er Chefredakteur des “Journal of European Psychoanalysis” (Rom/New York) und italienisches Mitglied des Institut des Hautes Études en Psychanalyse.
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Link:
http://www.leparoleelecose.it/?p=38581
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0003065120938386
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Bücher von Sergio Benvenuto
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