Mehr als nur irgendein Online-Tagebuch
Die bekannte chinesische Schriftstellerin und Regimekritikerin Fang Fang beginnt ihr Online-Tagebuch am 25. Januar 2020. Dies ist genau zwei Tage nach der kompletten Abriegelung der chinesischen 9-Millionen Metropole Wuhan. Wer meint, dass nun Langeweile auf den über 300 Seiten ausbricht, irrt sich gewaltig. Eingeschlossen in ihrer Wohnung berichtet die mit vielen Informanten gut vernetzte Autorin über den Verlauf der Pandemie in ihrer Stadt. Details wie das trotz schon grassierender Virusepidemie stattfindende Neujahrsessen mit 20000 Teilnehmern in einem Wuhaner Stadtteil lassen den Leser tief an den Ursachen der raschen Virusausbreitung teilnehmen. Für den westlichen Leser gibt das Buch aber auch Eindrücke in eine Regierungsmaschinerie, die unerwünschte Meinungen wenig duldet. Auch die Wut der Bevölkerung verbunden mit einem typischen Galgenhumor der Wuhaner über die anfängliche Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden werden plastisch dargestellt.
Wuhan Diary – aus Ohnmacht wird ein Werk
Auch wird uns im Westen vor Augen geführt, dass in Wuhan sehr wohl Schuldige an der weiteren Verbreitung von Falschmeldungen in den Behörden benannt wurden und zumindest einige ihre Posten verloren haben. Die anfängliche Vertuschung der gefährlichen Epidemie lässt den Leser über das Verhalten seiner eigenen Regierung besonders bei den Anfängen der Epidemie reflektieren. Die Autorin lässt tiefe Einblicke in den chinesischen Verwaltungsapparat mit Funktionären, von denen manche vom Volk einfach für unfähig gehalten werden, zu.
Und noch etwas: Der selbstkritische Leser wundert sich bereits nach einigen Seiten über die fehlende Kritik und ebenfalls dem Mangel an politischen Konsequenzen aus misslungenen politischen Maßnahmen zu Anfang der Epidemie in seinem eigenen Land. Letzteres gilt vor allem für Europa sowie Amerika. So fragt man sich nach den Namen der Verantwortlichen für die verzögerten Maßnahmen in unseren „ja so“ demokratischen freien westlichen Welt. Hierbei sind insbesondere Italien, Spanien, Österreich, USA und Brasilien gemeint.
Zudem spürt der Leser eine gewisse Ohnmacht der Schriftstellerin gegenüber der chinesischen Staatsmacht, die ihr immer wieder den Internet-Blog zu sperren scheint. Aber solche Sperrungen von Accounts und Blogs, ein Erlebnis wie in Kafkas „Prozess“, erleben ja auch Menschen im Westen. Die großen sozialen westlichen Netzwerke mit Millionen von Mitgliedern und Milliarden Umsätzen sperren ebenfalls Abonnenten oder Kunden ohne Angabe von Gründen. Es beruhigt, dass die vielen Kontakte der Autorin ihr eine weitere Veröffentlichung ihres kritischen Tagebuches ermöglichen, China erscheint daher gar nicht mal als so kontrolliert. Die menschliche Seite, der Zusammenhalt mit den vielen freiwilligen Helfer unter den Chinesen, wird beschrieben, wie Tausende von Unterstützern nach anfänglichen Koordinationsproblemen die eingeschlossene Megastadt am Leben halten und das chinesische Sozialgefüge gut funktioniert. In das Buch würde Merkels berühmter Satz passen „Das schaffen wir schon“.
Von Frau Fang Fang lernen?
Wer als Westler das heutige China verstehen will, dem sei dieses Buch empfohlen. Sofort oder nach der Corona-Zeit. Empfehlung: Für alle die mehr über China erfahren wollen. Ein unvergängliches Werk über die komplette Abriegelung einer 9-Millionen Metropole nach Ausbruch der Corona-Epidemie im Dezember 2019. 9/2020 Dieter H. Mainka
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Wuhan Diary
von Fang Fang
Hoffmann und Campe
6/2020
349 S.
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Fang Fang
Fāng Fāng wurde in Nanjing 1955 geboren. Sie ist eine chinesische Schriftstellerin, welche weltweit durch die Veröffentlichung von ihrem Wuhan-Tagebuch bekannt wurde. Sie studierte in Wuhan chinesische Literatur und arbeitete darauf als Redakteurin. Neben dem Schreiben von Drehbüchern widmete sie sich zunehmend ihren Romanen. Schließlich gelang ihr 1987 mit der Erzählung „Aussicht” der Durchbruch. Während des chinesischen Lockdowns führte sie einen Tagebuchblog, dessen Posts bereits nach einer Stunde von der Regierung entfernt wurden. Trotzdem konnten die beiden Verlage Harper und Collins und Hoffmann und Campe diese Tagebücher schließlich veröffentlichen.
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Autor dieses Artikels: Dieter H. Mainka