Sidos Tausend Tattoos. Plus ein KI-Löwe
Sidos Tausend Tattoos ist, also mal nüchtern betrachtet, eine autobiografische Verdichtung: Der Song beschreibt die Haut als Speichermedium biografischer Bruchstellen, als eine Schicht zwischen Innen und Außen, die Verletzungen nicht nur verdeckt, sondern sie zugleich in Zeichen verwandelt. Das Thema Tätowierung, um nichts anderes geht es da, erscheint darin als archivierte Erfahrung, als eine Form materieller Selbstbeschreibung, die erst im Rückblick verständlich wird.
Wir verstehen diesen Song heute vielleicht deshalb besser als zu seiner Entstehungszeit, weil das Bedürfnis nach Selbstmarkierung in einer zunehmend entgrenzten digitalen Welt eine neue Funktion angenommen hat: Tattoos dienen nicht mehr (allein) der Zugehörigkeit, sondern zunehmend der Selbstvergewisserung; sie sind Marken der Authentizität in einem Raum, in dem Identität permanent in Bewegung ist.
Damit verweist der Song auf eine zentrale anthropologische Spannung: Die Haut fungiert zugleich als schützende biologische Hülle und eben auch als lesbare Oberfläche, Barriere wie auch als Projektionsfläche. Letztlich trennt sie uns von der Welt – und ermöglicht genau dadurch eine Form der Mitteilung an jene äußere Welt. In diesem Sinne sind Tattoos weniger Dekoration als semiotische Setzungen, die das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst stabilisieren.
Der archetypische Gegenpol
Vor diesem Hintergrund wirkt der Übergang zum Löwen, das ist hier die Idee des KI-Künstlers Michael Mainka, fast zwangsläufig, weil er als archetypischer Gegenpol (König der Löwen) erscheint: ein Wesen, das keine Zeichen benötigt, um sich seiner selbst zu vergewissern.
Der Löwe ist in seiner physiologischen und symbolischen Ganzheit abgeschlossen; er verfügt über ein instinktives Selbstverständnis, das keiner äußeren Markierung bedarf. Genau deshalb wäre es unzulässig, ihm Tattoos aufzuzwingen – nicht nur aus tierschutzrechtlichen Gründen, sondern auch, weil ein Tattoo bei einem Tier ein Gewaltakt gegen die eigene Natur wäre. Genau deshalb darf man ihm in der Kunst eben mal diese Markierungen mitgeben, weil wir Menschen, wir Tätowierten, ihm damit etwas menschlich oder tierisch näherkommen.
Was würde ein Löwe wählen
Und daneben bleibt die hypothetische Frage interessant: Was würde ein Löwe wählen, wenn er – rein gedanklich – über dieselbe symbolische Kompetenz verfügte wie wir? Würde er sich Szenen aus seinen Jagderfolgen in die Flanke ritzen lassen? Die Topografie seines Reviers? Die Silhouette der Sonne, die er täglich beobachtet? Oder vielleicht ein abstraktes Zeichen, das seine Stellung im Gefüge des Rudels ausdrückt? Die Vorstellung wirkt zunächst absurd, führt aber analytisch zu einem präzisen Punkt: Der Löwe braucht keine Markierungen, weil seine Existenz selbst Markierung genug ist.
Back to the roots
Damit entsteht eine paradoxe Gegenüberstellung: Der Mensch tätowiert sich, um seine Biografie zu stabilisieren; der Löwe ist stabil, ohne je eine Biografie zu benötigen. Und in dieser Differenz begreifen wir unwillkürlich den Kern des Songs erneut: Tattoos sind ein menschlicher Versuch, jene Klarheit zurückzugewinnen, die der Löwe (scheinbar) niemals verloren hat.
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