Vergangene Küsse, Baudrillard und Künstliche Intelligenz
Es geht um Künstliche Intelligenz und was sie mit Hyperrealität und dem sogenannten Simulacrum zu tun hat. Und weil das kompliziert klingt, fangen wir mit einer komischen Frage an: Wie küsste John F. Kennedy seine Marilyn oder Serge Gainsbourg seine Jane? Die Antwort findet sich im eigenen KI-Film, weiter unten, der der eigentliche Auslöser zu diesem Essay war. Und was das alles noch mit digitaler Narration und kultureller Konstruktion zu tun hat, das klären wir daneben auch.
Die Macht der KI und die Neuschaffung der Vergangenheit
Eigentlich würden wir nur mit sehr viel Aufwand etwas Genaueres über das zärtliche Verhalten von Superstars aus vergangenen Zeiten erfahren, wenn wir es denn wollten. Manche interessiert das bekanntlich sehr. Wie auch immer, dank besagter Künstlicher Intelligenz können wir jetzt recht wahrscheinliche Szenen intimer Küsse von damals sozusagen „neu“ auferstehen lassen.
Und dann werden diese ehemals unechten Bilder auf eine nahezu bizarre Weise real, weil sie halt so aussehen, als hätte es sie gegeben. Diese Mimesis, also die Nachahmung oder Repräsentation von Realität durch KI, ist ein faszinierendes Beispiel für die Möglichkeiten moderner Technologie. Und weil dem so ist, setzen sich einige dieser Bilder gesellschaftlich durch und formen unsere Sicht auf die „wirkliche“ Vergangenheit um. Vertieft betrachtet, verändern diese neuen, eigentlich nicht belegten Bilder sogar die Vergangenheit selbst. Das aber geschieht nur, wenn sie Beachtung finden, etwa durch Influencer, die die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz voll ausschöpfen.
Geschichte und digitale Narrationen
Wie auch immer, insgesamt ist die Manipulation der Zeiten wie eben betrachtet, nun ja, wirklich starker Tobak. Andererseits, so mag der gebildete Kunsthistoriker einwerfen, war es in diesen vergangenen Zeiten zumeist ganz egal, was man später über sie sagen würde; sie, die damaligen Abenteurer, wollten nur ihren eigenen Leuten am Lagerfeuer etwas Spannendes erzählen können. Anders gesagt: Sie, die eher zeitlosen Altvorderen, machten einfach Geschichten, Legenden oder Märchen aus ihren Altvorderen, so wie wir heute daraus digitale Narrationen oder KI-Filme machen, die durch Künstliche Intelligenz unterstützt werden.
Wo ist da der Unterschied? Dieser liegt darin, dass Geschichten und Legenden halt nur Geschichten und Legenden sind – und somit Fantasien in unserem Geist, angespornt durch ein paar Wörter und Sätze. Wiederum sind KI-Filme schon etwas anderes, denn sie wirken real, werden bald durch Datenbrillen noch realer, und alle Realitäten (die wirklich gewesene, die wirkliche und die künstlich erstellte) werden in diesen Brillen verschwimmen beziehungsweise tun es bereits heute. Diese Verschmelzung führt uns direkt in die Hyperrealität, in der wir uns kaum noch sicher sein können, was echt und was Simulacrum ist.
Die Ontologie dieser durch KI geschaffenen Realitäten wird dabei immer komplexer, da sie unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Sein und Existenz herausfordert. Zugegeben, das sind nun starke Tobaksorten, aber egal, denn es ist ja alles erst der Anfang unserer Überlegungen.
Back to the kisses…
Dieses Essay wäre ohne den besagten kleinen KI-Film nicht entstanden. Und als der Autor mit dem Schreiben daran begann, hatte er die Summe von vielleicht 100 Wörtern im Sinn, dass es mehr als das Zwanzigfache werden würde, hatte er nicht erahnt. So ist das Leben, es küsst den Menschen unerwartet oder auch nicht.
Also: Die Idee zu besagtem KI-Film war eine poetische: Verschiedene berühmte Paare sollten sich auf dem Zenit ihrer Karriere küssen und dies in privaten Momenten, halt so wie das Leben real auch spielt. Der KI-Film wiederum zeigt diese alten Szenen in der damals üblichen Aufnahmequalität, und damit so, als hätte man die Szenen mit einer für die Zeit typischen Kamera aufgenommen.
Noch einmal: Letztlich war das Grundgefühl der Idee eher romantisch und originell als voyeuristisch, was eine interessante kulturelle Konstruktion dieser Momente in der Hyperrealität ermöglicht.
Epistemologie in der Ära der KI
Der durch die KI ermöglichte Wandel der Möglichkeiten birgt auch Fragen der Epistemologie: Wie wird Wissen in dieser neuen, von Algorithmen und algorithmischer Governance geprägten Welt konstruiert und weitergegeben? Die Antwortet lautet: In einer solchen Welt wird Wissen zunehmend durch personalisierte digitale Plattformen und Algorithmen gefiltert und präsentiert.
Diese Algorithmen bestimmen, welche Informationen wir sehen und welche nicht, plus, was unsere Wahrnehmung der Welt und unser Verständnis von Wissen stark beeinflusst. Das Wissen wird also nicht mehr nur durch traditionelle Bildungswege erworben, sondern durch die Linse der Künstlichen Intelligenz selbst – und ihrer algorithmischen Entscheidungen gefiltert und geformt. Dargestellt wird das alles spätestens in zehn Jahren holografisch im Raum selbst oder durch Datenbrillen, die aber zunehmend mit dem Raum verschmelzen. Aber das ist ein anderes Thema, namens „realer Raum“.
Veränderungen durch soziale Medien
Zugegeben, der besagte KI-Film war ursprünglich gar nicht als Beispiel für tiefer gehende philosophische Überlegungen gedacht. Andererseits zeigt dies, wie unerwartet sich solche Projekte entwickeln können. Im Film selbst unternehmen wir eine Zeitreise, bei der unsere moderne Perspektive mit der fast schon nostalgischen Privatheit früherer Jahrzehnte verschmilzt.
Diese Vermischung verdeutlicht die Macht der Künstlichen Intelligenz: Sie erschafft Simulacra (realitätsnahe Nachbildungen), die so überzeugend sind, dass sie unsere Wahrnehmung der Vergangenheit und damit unser Verständnis der Realität nachhaltig beeinflussen können.
So gesehen beginnen die Zeitebenen zu verschwimmen, während wir uns bewusster werden, dass gestern, heute und morgen weit weniger getrennt sind, als wir dachten. Ebenfalls verschwimmen oder fallen die medialen Fronten und Grenzen. Das liegt wiederum bekanntlich im „woken Trend“, mit einem Unterschied: Medial gibt es keinen kulturellen Streit, das Verschwimmen von Grenzen in allen Dimensionen geschieht „einfach so“ – ein Effekt der Hyperrealität, in der wir durch digitale Narrationen gefangen sind.
Social Media, Digitale Narration und die Konstruktion der Realität
Milliarden Menschen verbringen täglich mehrere Stunden auf X, TikTok, Facebook oder Instagram, und es verändert ihr Leben, so wie vor ein paar Jahrzehnten das Auto das Leben ihrer Eltern veränderte. „Ja und?“, sagen diese Milliarden, was nachvollziehbar ist, denn als normaler Mensch muss man nicht über sein Zeitgeschehen philosophieren, sonst wäre man schließlich nicht normal.
Doch dieser Wandel birgt auch Fragen der Epistemologie: Wie wird Wissen in dieser neuen, von Algorithmen und algorithmischer Governance geprägten Welt konstruiert und weitergegeben? Na gut, in einer solchen Welt wird Wissen zunehmend durch personalisierte digitale Plattformen und Algorithmen gefiltert und präsentiert. So geht das also. Dabei bestimmen diese Algorithmen, welche Informationen wir sehen und welche nicht. Das wiederum beeinflusst unsere Wahrnehmung der Welt und unser Verständnis von Wissen stark.
Soweit so gut. Die Sache wird aber noch spannender, wenn wir bedenken, dass jeder Einzelne – weltweit – nicht nur Beobachter dieser Entwicklungen ist, sondern auch aktiver Teilnehmer. Durch unsere Interaktionen mit Social Media und anderen digitalen Plattformen formen und beeinflussen wir selbst die Art und Weise, wie Realität wahrgenommen und dargestellt wird. Jeder Beitrag, jedes Foto und jeder Like trägt zu dieser kulturellen Konstruktion der Realität bei. Künstliche Intelligenz ist dabei ein mächtiges Werkzeug, das diese kulturelle Konstruktion noch weiter verstärkt.
Persönliche Identität im digitalen Zeitalter
Ebenso spannend ist es zu beobachten, wie diese Veränderungen uns selbst beeinflussen. Die ständige Verbindung zu sozialen Medien verändert unsere Wahrnehmung von Privatheit, Intimität und sogar von uns selbst. Wir sind ständig in einem Wechselspiel zwischen dem, was wir wirklich sind, und dem, wie wir uns präsentieren möchten – und diese beiden Seiten beeinflussen sich gegenseitig.
Dieses Wechselspiel ist ein Produkt der Hyperrealität, in der digitale Narrationen und Simulacra (realitätsnahe Nachbildungen) das Alltagsleben dominieren. Um besser zu verstehen, wie diese digitalen Konstrukte unsere subjektive Erfahrung von Realität beeinflussen, ist es hilfreich, eine phänomenologische Perspektive einzunehmen. Schaut man genauer hin, sind wir alle – und das betrifft fast jeden, der online surft – Teil dieses „Spiegels“, den Social Media letztlich darstellt. Wir blicken hinein, in diese moderne Zauberkugel, und sehen nicht nur uns selbst, sondern auch eine reflektierte und manchmal sehr verzerrte Version der Realität.
Wir leben in einer dynamischen, sich ständig verändernden Welt. Es ist faszinierend, darüber nachzudenken, wie diese Entwicklungen unsere Selbstwahrnehmung und unsere Sicht auf die Welt beeinflussen. Immer deutlicher wird, wie tiefgreifend die Künstliche Intelligenz unsere kulturellen Konstruktionen formt.
Eine Philosophie der KI
Zumindest hat Jean Baudrillard das alles geahnt. Er ist ein oder der relevante Philosoph für die genannten Thesen und Fragestellungen und entwickelte in seinem Werk „Simulacra and Simulation“ (1981) die Idee, dass wir in einer Welt leben, in der Simulacra und Repräsentationen die Realität ersetzen. Laut Baudrillard führt die massenhafte Reproduktion von Bildern und Zeichen (wie etwa aktuell in Social Media) dazu, dass das Originale, Authentische verschwindet. Die Hyperrealität ersetzt das, was wir einst als Realität kannten.
Baudrillard hätte argumentiert – oder würde es so tun –, dass die heutige Generation durch Social Media in einer „Hyperrealität“ lebt, wo die Grenzen zwischen dem, was real ist, und dem, was nur eine Repräsentation oder Simulation ist, verschwimmen. Diese verschwimmenden Grenzen werden durch die Künstliche Intelligenz noch verstärkt, die uns in eine Welt der Simulacra führt.
Medien und die neuen Narrative
Die Selbstinszenierung und -definition über Plattformen wie Instagram schaffen eine simulierte Realität, die sich von der traditionellen, intimen Privatheit entfernt hat. Baudrillard könnte in diesem Zusammenhang argumentieren, dass das Video von berühmten Paaren, die sich in den 50ern küssen, in der heutigen Zeit eine „simulierte“ Intimität darstellt, die wir durch das Prisma von Social Media betrachten und somit „kolonisieren“. Das bedeutet, dass wir diese nachgebildeten Szenen nicht nur als Erinnerung wahrnehmen, sondern sie aktiv in unsere moderne, digitale Kultur einfügen. Auf diese Weise formen digitale Erzählungen unsere Sicht auf die Vergangenheit und beeinflussen gleichzeitig, wie wir die Gegenwart verstehen.
Einen Haken hat die Sache aber doch noch: Der Franzose sah nicht die positiven Möglichkeiten all dieser modernen Technik. Baudrillard konzentrierte sich auf die negativen Aspekte der Hyperrealität, ohne zu erkennen, dass Social Media und das Internet auch die Kraft haben, die Welt positiv zu verändern. Menschen können sich damit informieren und jedes Wissen dieser Welt abrufen. Doch selbst in dieser positiven Nutzung bleibt die Hyperrealität bestehen, da die virtuelle Welt weiterhin von Simulationen geprägt ist. Dies führt zur offenen Frage nach der Teleologie – also nach dem Ziel dieser Entwicklung: Führt uns die Technik zu einer besseren Realität, oder entfernen wir uns immer weiter von ihr?
Baudrillard hätte wiederum dieser positiven Sichtweise nicht zugestimmt, denn er sah die menschliche Welt an sich selbst ersticken. Dystopisch war sozusagen sein Stichwort (oder Fetisch?) – und es wurde eine Tendenz bei manchen Intellektuellen. Letztere sind, um es einmal biblisch zu benennen, die Zweifler des göttlich Guten. Böse Engelszungen nennen sie denn auch augenzwinkernd die Anhänger eines gewissen Luzifers.
Robert Rosenstone und Historienfilme als verzerrte Zeitreisen. Kurz: Digitale Narration
Ironie beiseite und Brille geputzt: Tatsächlich drehen sich viele Filme und Serien um den Weltuntergang. Ob Zombies oder Angriffe durch Aliens, die Welt geht in diesen Werken unter. Andererseits stimmt das nicht ganz, denn noch niemand hat die Zeiten gegengerechnet, die dystopischen Zeiten im Internet mit den „süßen Zeiten“ verglichen, in denen wir Katzenvideos schauen oder aufbauenden Psychologen, Philosophen oder eben spirituellen Lehrern lauschen. Um es ironisch zu formulieren:
Der Kampf Gut gegen Böse ist noch nicht entschieden – „geliked“.
Daneben gibt es in der Filmtheorie die These, dass Historienfilme eine Art von „Zeitreise“ darstellen. Die Idee ist, dass Historienfilme nicht nur vergangene Epochen darstellen, sondern auch die Sehnsüchte, Ängste und Wünsche der Gegenwart projizieren.
Der Historiker und Filmtheoretiker Robert Rosenstone argumentiert, dass Historienfilme nicht einfach die Vergangenheit abbilden, sondern sie neu interpretieren und dabei immer auch die Sichtweise und Bedürfnisse der Gegenwart reflektieren. Dies geschieht häufig durch digitale Narrationen, die in unserer Hyperrealität eine eigene Realität erschaffen. Diese Filme erlauben es uns, durch eine hermeneutische Linse zu blicken, die die Vergangenheit neu interpretiert und uns gleichzeitig eine kritische Reflexion unserer Gegenwart ermöglicht.
In gewisser Weise könnte man sagen, dass besonders diese Filme es dem Publikum ermöglichen, durch eine Art „digitale Narration“ eine vergangene Realität zu erleben und gleichzeitig die eigene Gegenwart zu hinterfragen. Die Filme schaffen Simulacra, die eine kulturelle Konstruktion einer vermeintlich authentischen Vergangenheit darstellen. In diesem Prozess zeigt sich auch die Dezentrierung des Subjekts, ein Konzept, das beschreibt, wie unser Verständnis von Identität in der modernen Welt unter dem Einfluss dieser komplexen Narrative und Technologien immer mehr an Klarheit verliert.
Überspitzt gesagt, verwirren uns diese schwer zu durchschauenden Manipulationen. Es ist fast so wie bei den Geschmacksverstärkern, die wir unserem Essen beifügen, welche bekanntlich unseren Magen verwirren und nicht gut für die Gesundheit sind.
Was also tun, wenn diese seltsame kulturelle Konstruktion überfordert und nicht erleichtert? Der Autor weiß es auch nicht und empfiehlt jedem Menschen das, was der kluge Buddha schon vor langer Zeit seinen Schülern mit auf den Weg gab: Immer die gesunde Mitte anzustreben und nichts zu übertreiben.
Technik. Und glückliche Küsse
Was haben die schönste Küche von bulthaup und der schnellste Sportwagen von Ferrari gemeinsam? Richtig, sie sind teuer, aber sie steigern das Lebensglück nicht proportional zum Preis. Gut, manche Menschen brauchen solche absoluten Produkte aus eher spirituellen Gründen (das Absolute erreichen), aber darum ging es in diesem Aufsatz ja nicht wirklich.
Andererseits kann der Umgang mit faszinierender Technik, die geschickt kulturell eingesetzt wird, erweiternde Bewusstseinserfahrungen mit sich bringen. Wir können mit Datenbrillen andere Universen bereisen und sogar geleitete Meditationen in Bildern erleben. Egal, was da noch entwickelt wird und wie nützlich es sein mag, am Ende führt alles zurück zu dem, was wir selbst sind und was unsere nächste Umgebung ist.
Das mag nach Heidegger klingen, aber eigentlich war es der hier oft zitierte Jean Baudrillard, der die Idee vertreten hat, dass die Flucht in die Natur oder das „Reale“ eine Reaktion auf die Überflutung durch die Hyperrealität ist. Am Anfang und am Ende steht immer die ganz banale Wirklichkeit oder das Reale, wie Baudrillard es gerne nannte.
Der Autor ist überzeugt: Wir werden das Reale in der Natur und der Welt um uns herum wiederentdecken. Und wenn alles gut geht, werden wir dann durch die Erfahrungen mit KI gelernt haben, die wahre Essenz des Realen – selbst in den künstlichen Strukturen um uns – als das „natürlich wahre Reale“ mehr schätzen. Und wo können wir dieses ersehnte Ziel schon jetzt am besten spüren? Beim Küssen – ganz natürlich.
Autor:
Michael Mainka
19.08.2024, Hamburg
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