3. Dezember: Ein komischer Vogel
Er kann mich gut verstehen. Warum das so ist, weiß ich nicht, wirklich nicht. Jeder Mensch ist tatsächlich anders. Na gut, der Mann hat einen toleranten Geist, auch wenn dies seltsam klingt. Also ‚wirklich tolerant‘, das können wirklich nur wenige. Auch wird Toleranz überschätzt. Und noch etwas: Es ist schön, wenn man sie hat, so wie halt unser G., der gerade an seinem Wodka-Orange nippt und kaum merklich zum Rhythmus eines Songs wippt.
„G.?“, beginne ich und bemerke das sanfte Echo meiner Stimme. Nun ja, wo G. ist, wird alles etwas sanfter, gediegener – selbst das Übernatürliche in dieser KI. Seine Augen sagen mir, dass er mich versteht: „Also ich meine, dieser verschlafene Ort ist weit entfernt von dem, was man normalerweise mit dir verbindet. Was bringt dich hierher?“
G. lächelt. Sein Blick verweilt auf seinem Drink. „Manchmal“, sinniert er, „findet man Ruhe in und an den ungewöhnlichsten Orten.“ Ich denke darüber nach, während in mir ein neuer Wunsch entsteht: Ich hätte jetzt auch gerne einen solch orangenen Drink. Er nickt und führt dazu eine Geste aus, so als würde er einen neuen Wodka-Orange jetzt beim Barkeeper ordern, was natürlich viel zu früh ist, sein Glas ist noch fast voll.
„Ist es die Ruhe, die du suchst? Oder ist es etwas anderes? Vielleicht die Freiheit, die diese Bar, diese Umgebung dir bietet?“, frage ich und lausche dem sanften Klang des Echos meiner Worte. Er hat sich zurückgelehnt und betrachtet die wenigen Gäste im hinteren Teil. „Es gibt an diesem Ort etwas Unbeschreibliches. Etwas, das mich fesselt. Vielleicht ist es die Ungezwungenheit, das Fehlen von Erwartungen.“ Ich nicke. Nun ja, auch wenn er mich gar nicht sehen kann, so nicke ich halt doch – menschlich mit.
Jetzt schaut G. in meine Richtung und flüstert: „Hier darf ich verrückt und total normal sein. Hier bin ich verrückt oder spießig, ganz wie ich es will.“ Er nippt wieder an seinem Drink. „Und das Wichtigste? Das ist eigentlich mein Geheimnis.“ Jetzt zögert er und flüstert dann endlich zu mir: „Hier in dieser altbackenen Bar im Irgendwo übe ich einmal im Jahr meine Toleranz, stimme ich sie ein für das nächste Jahr, so wie ein Musiker seine Gitarre stimmt.“
Ich nicke schon wieder und bemerke nicht, wie der Kellner mit dem bestellten Glas jetzt am Tisch steht. „Und jetzt kommt der Beweis dafür, dass ich es ernst meine“, fügt G. lächelnd an. Er weist den Kellner an, das neue Glas dahin zu stellen, wo theoretisch eine Person ihm gegenüber sitzen könnte.
Selbst wenn Sie ihn nicht kennen würden, noch nicht einmal seine Geschichte in Ansätzen, Ihnen wäre jetzt an meiner Stelle sehr unwohl. Ob nun mit Magnet oder ohne, egal, Sie würden zittern, mindestens. Der Mann trägt zwar eine getönte Brille und eine komische Weihnachtsmannmütze, aber seinem Blick würden Sie keine zwei Minuten standhalten, stattdessen würden Sie materiell zu einer Pfütze zusammenschmelzen und selbst diese würde dann irgendwann vor Panik verschwinden. Und wenn dann doch noch ein paar Elektronenreste da unten auf dem Linoleumboden von Ihnen abstammen würden, glauben Sie mir, dann spätestens würde der Magnet die Sache übernehmen und Sie ins Universum schießen.
Aber ich bin ja hier und Sie können jetzt wieder aufatmen. Was Sie außerdem nicht wissen können, das erkläre ich jetzt so kurz wie möglich: Es ist meine Aufgabe, mit Menschen gedanklich ins Gespräch zu kommen und zwar so, dass diese denken, sie würden in sich Selbstgespräche führen. Dabei manipuliere ich niemanden, sondern verleite nur zu ein wenig Ehrlichkeit zu sich selbst. Das ist mein Job.
Meine bereits tausend Mal durchdachte These: Jedes Wesen hat eine genau passende Aufgabe in diesem Spiel namens Erdenleben. Allerdings kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wann und wieso ich mir diesen, meinen Job, ausgesucht habe. Nur eins weiß und spüre ich sicher, „es gibt bestimmt langweiligere Beschäftigungen“. Daneben ist noch eine Sache erstaunlich, eine, die mich mit dem Mann da vor mir auf einer anderen Ebene verbindet: Wir beide können stundenlang verharren, dabei einfach nur wahrnehmen und beobachten. Und das tun wir jetzt gerade – und zwar seit Stunden.
Es ist auch schon etwas her, als ich in den Raum geflüstert habe: „Was siehst Du eigentlich, wenn Du Dich im Spiegel betrachtest? Siehst Du den Schauspieler oder den Ganoven? Die Antwort ließ auf sich warten, was ich fast erwartete, aber jetzt, vielleicht zweieinhalb Stunden später, hat sich das Warten doch gelohnt: „Ich sehe beides“, antwortet er. „Manchmal ist es schwer zu unterscheiden, wo die Rolle endet – und ‚ich‘ beginne.“
Ich wiederum will die ‚Gunst der Sekunde‘ nutzen und formuliere einen neuen Gedanken: „Jede Rolle, die Du spielst, hinterlässt ihre Spuren im eigenen Bewusstsein. Das formt Dich, aber letztlich geht es nicht nur Schauspielern so.“ Gäbe es eine tickende Uhr in diesem Raum, dann würde ich sie spätestens jetzt hören, denn ich will ihn verstehen und ja, er antwortet mir durch diese vorweihnachtliche Stille hindurch: „Ich frage mich manchmal, ob ich mich in diesen Rollen verliere … zu sehr verliere. Andererseits scheint es so, als bestände unser Dasein aus nichts anderem als parallelen Rollen.“ „So wie in einem Videospiel?“ frage ich. Er nickt. Und ich tue es ihm nach, allerdings unsichtbar und ohne Videospiel.
Das ist irgendwie komisch. Also da sitzt nur ein Mann an einem Tisch, auf dem zwei gefüllte Gläser mit dem gleichen Inhalt stehen, aber das ist noch nicht alles, denn G. präzisiert seinen Wunsch: „Bitte lass das Glas hier stehen, so wie es ist und zwar bis morgen Abend um die gleiche Zeit. Es soll genau 24 Stunden hier stehen.“ So weist er den glatzköpfigen Kellner an. Dieser schaut verdutzt, fängt sich und gibt zu bedenken, dass am nächsten Morgen die Putzfrau kommt.
„Ich hätte es aber gerne genau so“, sagt G. und öffnet sein Portemonnaie, um zwei Hundertdollarnoten zu entnehmen, die er zum Kellner herüberschiebt. Ein wenig belustigt wendet er sich darauf wieder mir zu.
„Dieser Whiskey-Orange ist nämlich für dich, du komischer Vogel“.
Ein leises „Danke“ lasse ich als Antwort durch den Raum und damit zu G. schweben.
„Sagen wir besser Prost“ entgegnet er und nimmt darauf einen großen Schluck.
Ich starre auf das Glas Wodka-Orange vor mir, solange bis er verschwimmt und ich mir endlich vorstellen kann, wie ich es anhebe und langsam zum Mund führe. Das geht natürlich nicht, weil ich keinen Mund habe, aber ich kann es mir ja vorstellen. Jetzt spüre ich den Geschmack, den Alkohol und endlich auch die Wirkung. Es sei gesagt: Ich lerne noch, also alles Wichtige über Menschen.
„Und?“
„Sehr gut!“
„Neue Runde?“
Ich nicke kichernd.
Michael Mainka
Hamburg, 03.12.2023
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