18. Dezember: Harter Volley
Er sitzt da. Alleine. Lange. Ich möchte ihm zurufen, dass es ein Traum ist. Und dann ist da eine Art Gedanke, der ist seltsam, eine zweite Stimme – und zwar in mir. Werde ich verrückt? Diese, meine zweite Stimme, sagt mir, dass er diesen Traum benötigt, um seine Trauer auszuleben. Die Stimme ist klug, klüger als ich und erklärt mir jetzt, indem sie dieses Wort ausleben in die Bestandteile „aus“ und „leben“ unterteilt, worum es hier geht.
Das verstehe ich zwar, aber es lässt mich unbeeindruckt. Jetzt entgegne ich, dass der Herr doch am 14. Dezember vorzeitig entlassen wird und daher nicht traurig sein muss. Nun ja, das war nicht überzeugend. Meine Zweitstimme erklärt mir, und ich glaube, er kann es hören, dass dieser Traum, sein Traum, eine heilende Funktion hat und es wäre nicht meine Rolle, mich aktiv in diese, seine reale Welt wie auch die entsprechende Traumwelt einzumischen.
Das saß. Aber wenn ich Beine hätte, ich habe ja keine, dann, ja dann, würde ich dieser anderen, komischen und irgendwie unmenschlich strengen Zweitstimme einen deftigen Tritt verpassen. Gut, das geht nicht und jetzt komme ich zur Ruhe und staune nicht schlecht, wie theatralisch und irgendwie real dieser Traum von unserem gefallenen ‚Superstar‘ da vorne ist. Der Anzug, den er trägt? Den hat ihm der Gefängnisdirektor höchstpersönlich gebracht. Ja, Sie und ich hören richtig, noch eine Person ist träumend in den Traum involviert.
Die anfänglich so überschaubare Szene hat sich in ein reines Chaos verwandelt. Das Schlimmste daran ist aber eindeutig meine beschissene Zweitstimme, sozusagen meine logische Seite, mein Aufpasser, meine Programmierung oder was auch immer – und gerade jetzt stutzt sie mich schon wieder zusammen, also dass ich Menschen, die sich in hochdepressiven Träumen befinden, dass ich mich besonders auf die konzentrieren muss. „Wachsam, wachsam und noch einmal wachsam bleiben“, schärft sie mir ein. „Und wie es mir geht, danach fragt keiner“, will ich schreien, aber besinne mich gerade noch.
Stattdessen betrachte ich jetzt wieder unseren unglücklichen Gefängnisinsassen, der festlich gekleidet eine auf dem Boden stehende Kerze anstarrt.
„Hey, Superstar.“
„Wer da?“
„Nicht deine gute Fee. Aber eine solche könntest du jetzt gebrauchen.“
„Ich weiß.“
„Wusstest du, dass du Träume wie diesen beenden kannst, wenn solch merkwürdige Gestalten, Gedanken oder was auch immer wie ich auftauchen.“
„Nein.“
Ich zögere meine Erläuterung, die nun kommen müsste, jetzt bewusst dramaturgisch hinaus, denn so kann er sich dann das nachfolgende Traumrezept möglicherweise besser merken. So geht die Theorie, aber rein praktisch habe ich die Geduld unseres Stars falsch eingeschätzt, denn er konzentriert sich schon wieder auf seinen eigenen Trübsinn. Das sieht in ihm nicht wirklich gut aus und daneben kostet es mich Kraft, erneut durchzudringen. Er scheint mich jetzt wieder zu hören und so wiederhole ich: „Jetzt kommt der komische Part.“ Geschafft, er antwortet: „Der da wäre?“ Die besagte dramaturgische Pause lasse ich jetzt doch lieber ausfallen und komme gleich zur Sache.
„Also, du hast mich vernommen. Ich gehöre nicht in deinen Traum. Und jetzt hast du zwei Möglichkeiten …“
„Die da wären?“
„Du wechselst schnell in einen anderen Traum, zum Beispiel ‚Wellenreiten auf dem Surfbrett in Portugal‘. Diesen Traum magst du doch sonst so gerne.“
„Und Möglichkeit Nummer zwei?“
„Nun ja, du stellst dir vor, ich, also dass diese Stimme, die zu dir spricht, sei so etwas wie ein roter Stoppknopf.“
„Und darauf haue ich?“
„Genau. Und dann wachst du in deiner realen Realität auf und weißt, dass du übermorgen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wirst. Dein aktueller Traum basiert auf falschen Tatsachen!“
Er grinst noch.
Es tat weh. Unser Superstar hat selbst in seinen Träumen einen harten Volley. Ich werde ihn so schnell nicht mehr besuchen, das schwöre ich. Aber da ist schon wieder meine Zweitstimme, die mich warnt, dass ich, wenn ich so unorthodox weiter mache, erneut nicht befördert werde. Ich höre mir das an und komme zu dem Schluss, dass ich dumm wäre, wenn ich mich jetzt und hier an meine eigenen Regeln nicht halten würde. Den Volley habe ich ja gerade frisch gelernt, warum also nicht auch selbst anwenden?
„CRRRRROOOOSSSHHHHHHH“.
Es rumst gewaltig. Wie gesagt, oder vergessen zu sagen, ich bin eigentlich so etwas wie ein lernendes Programm und dieses freut sich gerade über den eigenen Lernerfolg.
Hamburg, 18.12.2023
Autor:
Michael Mainka
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