Agamben spaltet Italien? Nein, er hält der alten Kulturnation lediglich einen Spiegel vor. Das kann er gut, hat er als Sprachvirtuose immer schon gemacht. Im Nachbarland Schweiz liest man dank der „Neue Zürcher Zeitung“ ausführlich von ihm.

Dies mag seine Gründe auch darin haben, dass der angesehene Philosoph Agamben in den katholischen Hochburgen mit seinen Thesen auf offene Ohren trifft. Aber vielleicht erst einmal der Reihe nach: Ende Februar 2020 erschien in Italien Agambens Artikel „Die Erfindung einer Epidemie“ in „Il manifesto“. Darin spricht er von „hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfall-Maßnahmen“ und unterstellt dem Gesamtgeschehen, dass es sich lediglich um eine „vermutete Epidemie“ handelt.

Zwei Wochen später legt er in einem Blogbeitrag nach und erklärt, dass bereits die Idee einer Ansteckung „eine der unmenschlichsten Folgen“ der Italien beherrschenden Corona-Furcht sei. Er unterstreicht, dass die geltenden Dekrete faktisch jedes Individuum in einen potenziellen Überträger verwandeln. Dies wird von ihm mit früheren Terrorgesetzen verglichen, welche damals „faktisch und rechtlich jeden Bürger zum potenziellen Terroristen machten“.

„Was ich auch tue, es hat keinen Sinn, wenn das Haus in Flammen steht.“
Greta Thunberg

Worum es Agamben menschlich beim Thema Corona geht, wird spätestens klar, wenn er von einem „Niedergang der menschlichen Beziehungen“ spricht. „Es wird der Mitmensch abgeschafft“, so argumentiert der Philosoph. Und es entsteht somit eine Lage, „wie sie Regierende oftmals haben herstellen wollen“.

Wer nun ins Feld führt, dies alles seien die Worte eines zornigen, alten Mannes, der irrt. Denn eben dieser „Alte“ war Zeit seines Lebens ein provokanter Verteidiger eines akademischen Wissenschaftsbegriffs und zugleich auch ein Denker, der es liebte, religiöse Gedanken tabulos zu vertiefen. Vielleicht charakterisiert das nachfolgende und Zitat sein Denken in Zeiten des Virus bestens: „Die Kirche hat sich zur Magd der Wissenschaft gemacht, der mittlerweile wahren Religion unserer Zeit“.

Ist Giorgio Agamben links. Oder neorechts?
Oder ist das in Italien sowieso egal?

Harry Nutt bezeichnet Anfang September 2020 in einem Artikel für die Berliner Zeitung Giorgio Agamben als Säulenheiligen einer linken Theorie, der nun mittels seiner Kritik an den Corona-Maßnahmen mit rechtsradikalen Staatsfeinden gemeinsame Sache macht.

Man muss ergänzen, der Vergleich ist geprägt von dem kurz zuvor stattgefundenen Sturm auf das deutsche Reichstagsgebäude. Andererseits handelt es sich hierbei lediglich um eine rhetorische Unterstellung. Denn Agamben kritisierte ja die Maßnahmen der italienischen Politik – und nicht die der deutschen Regierung.

Nutt geht darauf sogar noch einen gewagten Schritt weiter, indem er Agambens Blick auf die staatliche Corona-Politik mit der Philosophie der Roten Armee Fraktion (RAF) vergleicht. So wollten die radikalen Staatsfeinde damals herausstellen, dass der Staat seinen Bürgern gegenüber feindlich eingestellt ist. Das Problem an Nutts Gedankengang ist der Umstand, dass möglicherweise Begriffe wie Rechts oder Links ausgedient haben. Immerhin demonstrierten sogenannte Linke und Rechte ja auch in Berlin gemeinsam gegen den nationalen Lockdown.

 

Letztlich eine Fortsetzung der faschistischen Periode

Am 7. Oktober 2021 hielt Giorgio Agamben eine online übertragene Rede vor dem italienischen Senat. Das Thema war die bevorstehende Abstimmung über ein Dekret, welches den sogenannten „Grünen Pass“ in ein Gesetz umwandeln wird.

Agamben macht hier zuerst die Parlamentarier darauf aufmerksam, dass die Regierung sich bereits von jeglicher Haftung für die durch Corona-Impfstoffe möglichen Schäden befreit habe. Daher kann der Staat nicht die Verantwortung für einen Impfstoff übernehmen, der seine Testphase noch nicht abgeschlossen hat. Der Widerspruch liegt in dem Umstand, dass derselbe Staat seine eigenen Bürger mit allen Mitteln zur Impfung zwingt.

Für Agamben brennt die Welt

Veröffentlicht wurde besagtes Essay Anfang Oktober 2020 nicht in Italien, sondern in der Schweiz und dort in der NZZ. Der Titel ist lang: „Die Zivilisation wird nicht mehr dieselbe gewesen sein: Was es bedeutet, Zeugnis von unserer maskierten Gegenwart abzulegen“. Das eigentliche Essay beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg: „Was ich auch tue, es hat keinen Sinn, wenn das Haus in Flammen steht.“

Es geht eher schwer verständlich weiter, so als würde ein Künstler Farbe auf der Leinwand verteilen und es liegen derart im Text regelrecht Zitate von Dichtern und Denkern herum. Das alles ist eine Stimmung, eine, die man empfindet, wenn man in unguten Zeiten über die Welt an sich nachdenkt.

Irgendwann wird die Sache konkreter, fragt sich der Autor, welches Haus da eigentlich in Flammen steht – oder ob es nicht schon die gesamte Welt ist. Letzteres ist es, was ihn umtreibt und so beschreibt er den modernen Menschen, als einen Schiffbrüchigen, der behauptet, das eigene Wrack zu beherrschen. „Wie sie schwören, kann alles technisch unter Kontrolle gehalten werden, braucht es keinen neuen Gott und keinen neuen Himmel – nur Verbote, Experten und Ärzte. Panik und Schurkerei.“

Von Ernst Jünger bis zum jüngsten Tag

Ernst Jünger wird genannt. Wörter wie „totale Mobilmachung“ fallen und Sätze wie „Die Menschen müssen mobilisiert werden, sie müssen sich jeden Moment im Notstand fühlen, der bis in kleinste Einzelheiten von denen geregelt ist, die über die Entscheidungsmacht verfügen.“ Agamben glaubt, so schreibt er zumindest, dass früher eine Mobilmachung das Ziel hatte, die Menschen einander näherzubringen. Heute aber zielt sie nach seinen Beobachtungen darauf ab, sie voneinander zu distanzieren.

Nach Agamben wird es in der nahen Zukunft nur noch Mönche und Schurken geben. Das ist dunkler Lesestoff. Und es fühlt sich letztlich so an, als würde ein Schiffbrüchiger in glühender Hitze an die Möglichkeiten eines guten Lebens auf einer sich auflösenden Welt nachdenken. Noch, noch kann man etwas tun. Aber es brennt immens.

Giorgio Agamben

Giorgio Agamben (* 22. April 1942) ist ein italienischer Philosoph. Er lehrt an der Universität Venedig und am Collège international de philosophie in Paris. Agamben erlangte Mitte der 90er-Jahre internationale Aufmerksamkeit und gehört heute zu den meistdiskutierten Philosophen. Recht unorthodox nimmt er immer wieder zu aktuellen Themen vor allem aus den Bereichen Politik, Gesellschaft und Naturwissenschaften Stellung.

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