Bruno Latour? Oui, er ist nicht erst seit der Pandemie ein renommierter Soziologe und man kennt ihn nicht nur in Frankreich. Und ein erneutes Oui, dieser nachdenkliche Denker hat sich fast schon unbemerkt außerhalb der Soziologie zu einem französischen Starphilosophen und -denker entwickelt.
Letzteres gelang mit mutigen und für trockene Soziologen eigentlich kuriosen Thesen, aber dafür ohne französisches Tamtam oder Chichi. Latour denkt vor allem umfassend. Und er ist zudem einer der wenigen Intellektuellen, die sich bereits zu Beginn der Pandemie eine Nach-Corona-Welt vorstellen konnten. Wie heißt es so schön: Chapeau!
Ein Soziologe & ein sehr tiefgehender Aufsatz
Es geht um einen Ende März 2020 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel: „Imaginer les gestes-barrières contre le retour à la production d’avant-crise“. Darin nimmt der Autor an, dass die Pandemie eigentlich nur eine kleine Krise ist, welche in eine größere und unumkehrbare ökologische Krise eingebunden ist.
… dass es möglich ist, innerhalb weniger Wochen … ein Wirtschaftssystem auszusetzen, von dem uns bisher gesagt wurde, dass es unmöglich verlangsamt oder gar umgestaltet werden könne
Sein Vorschlag als Soziologe: Die Gegenwart zu nutzen, um andere Wege für die Zukunft zu finden. Denn: „Die erste Lektion des Coronavirus ist auch die verblüffendste: Es hat sich gezeigt, dass es möglich ist, innerhalb weniger Wochen (überall auf der Welt und gleichzeitig) ein Wirtschaftssystem auszusetzen, von dem uns bisher gesagt wurde, dass es unmöglich verlangsamt oder gar umgestaltet werden könne.“
Der Soziologe nennt es dann eine „unglaubliche Entdeckung“, daraus bestehend, dass es in unserem Weltwirtschaftssystem doch noch ein bisher nicht entdecktes rotes Alarmzeichen gibt, an dem man ziehen kann, um das alles, anzuhalten.
Mehr als 'nur' Soziologie? Die ach so gefährliche These des Bruno Latour
Das alles mag für den einen oder anderen ziemlich theoretisch klingen. Aber ein einfaches Beispiel, nicht von Latour stammend, sondern vom Autor dieses Artikels, reicht eigentlich als Erklärung: Man stelle sich einen Mann um die 50 Jahre vor. Dessen letztes Jahrzehnt ist durch massiven Alkohol- und Zigarettenkonsum gekennzeichnet. Letzteres führt dazu, dass ihn aktuell starke Kreislaufprobleme quälen. Treibt dieser als Maßnahme dazu nun mehr Sport, kann er das gesundheitliche Problem zwar gerade noch so in den Griff bekommen, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sich weit größere Probleme einstellen.
Er könnte also endlich von den Drogen lassen und zum anderen mehr für sich tun, indem er sich neue Hobbys sucht oder sogar beginnt zu meditieren. Durch letzteres könnte es passieren, dass sich dieser Mensch in kurzer Zeit stärker verändert, als sein gesamtes Leben zuvor. Und wenn man so will, dann sind die aktuellen Kreislaufprobleme nur ein Nebenanzeichen einer viel größeren Krise – so wie Corona nur eines einer vielen größeren Krise unseres Planeten ist.
Aber Latour geht eigentlich nochmals weiter: Es geht ihm um die ganze Welt oder zumindest die gesamte Menschheit. Diese will er auffordern, anzufangen, jeden Aspekt unseres Produktionssystems zu hinterfragen – damit alle gemeinsam zu einem effektiven „Ein-Aus-Schalter der Globalisierung“ werden. Die spezifische Überlegung von Latour klingt dann so: „Was dem Virus durch bescheidene Speicheltröpfchen von Mund zu Mund gelingt – das Anhalten der Weltwirtschaft –, das beginnen wir durch kleine, unbedeutende Gesten zu imaginieren, die wir Stück für Stück zusammenfügen: die Aussetzung des Produktionssystems.
Hartmut Rosa und Bruno Latour im Gespräch
Rosa und Latour diskutieren über die Folgen und Perspektiven der Corona-Pandemie. Besonders das sogenannte Gaja-Prinzip wird umfassend behandelt. Dieses geht weit über die klassische Soziologie hinaus und betrachtet die Erde wie auch ihre Biosphäre als eine Art Lebewesen. Insofern findet alles in ständiger Interaktion statt.
Bruno Latour
Bruno Latour (* 22. Juni 1947 in Beaune, † 9. Oktober 2022 in Paris)) ist ein französischer Philosoph und Soziologe. Er beschäftigt sich vorwiegend mit den Bereichen Wissenschafts- und Techniksoziologie. Latour entstammt einer Winzerfamilie und studierte Philosophie, Anthropologie sowie Bibelexegese.
In der jüngeren Vergangenheit hat sich Latour international zu einem der einflussreichsten Autoren der Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt. Zum einen schließen aktuell viele akademische Forschungsarbeiten im Bereich Soziologie an seine Schriften an, während seine Theorien sich bereits heute in vielen Grundkursen und Überblicksvorlesungen finden.
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