Michel Houellebecq sieht in einem Essay dank Corona alles noch schlimmer werden
Für den französischen Schriftsteller und Bestsellerautor Michel Houellebecq wird die Welt auch nach Corona keine bessere sein. Seiner Meinung nach werden wir nach der Eindämmung der Pandemie nicht in einer neuen und schöneren aufwachen.
Michel Houellebecq beschreibt in einem Essays die Corona Pandemie. Das Schriftstück wurde als offener Brief an den Radiosender France Inter adressiert – und eben von dort Anfang Mai 2020 auch veröffentlicht. Im Text selbst sieht der bekannte Bestsellerautor aufgrund der allgemeinen Krise eine erneute Zunahme der bereits vorhandenen gesellschaftlichen Vereinsamung und Entfremdung. So verweist er darauf, dass seit einigen Jahren alle technologischen Entwicklungen die Reduzierung menschlicher Kontakte zur Folge hatten. Er schlussfolgert, dass die Pandemie als hervorragender Vorwand für diesen durchaus folgenschweren Trend dient. Houellebecq hält andererseits die Entwicklung der Epidemie für bemerkenswert normal. Der Schriftsteller prognostiziert im Frühsommer 2020, dass Frankreich etwas besser wegkommen wird als Spanien oder Italien – jedoch schlechter als Deutschland.
Corona. Bestsellerautor. Französisch. Und die Frage zum Sterbealter
Houellebecq, immerhin unter allen aktuell schaffenden Schriftstellern einer der umsatzstärksten Bestsellerautoren, thematisiert in seinem Brief auch die neuerliche Diskussion zum Alter der Erkrankten. Hierbei fragt er polemisch, bis wann diese denn reanimiert und behandelt werden sollten? 70, 75, 80 Jahre? Der Schriftsteller schlussfolgert, dass noch nie mit einer derart gelassenen Schamlosigkeit bescheinigt wurde, dass das Leben aller Menschen nicht denselben Wert habe.
Die Pandemie. Ein kritischer Bestsellerautor denkt über den Lockdown nach
Die Stelle im Text klingt amüsant, ist aber eigentlich tiefsinnig: Michel Houellebecq reflektiert über einen möglicherweise fiktiven Konflikt zwischen Flaubert und Nietzsche. Flaubert soll demnach der Meinung gewesen sein, dass man nur im Sitzen gut denken und schreiben kann. Nietzsche widersprach dem vehement.
Wiederum erklärt sich Houellebecq nun auf der Seite des deutschen Philosophen zu stehen. Seiner Meinung nach ist „… vom Versuch zu schreiben abzuraten, wenn man nicht die Möglichkeit hat, am Tag mehrere Stunden zu laufen: Die angestaute Nervenspannung kann sich nicht auflösen, die Gedanken und Bilder kreisen weiter schmerzhaft im armen Kopf des Autors herum“.
Und dann? Nun ja, dann schließt der Bestsellerautor das gesamte Thema mit dem Hinweis ab, dass die beim Gehen erlebten inneren Landschaften eigentlich wichtiger sind, als die äußeren. Wenn man nun die Gedanken des Schriftstellers weiterspinnt, dann sollten wir alle zumindest beim nächsten Lockdown das tägliche Spazierengehen nicht vergessen. Schließlich sieht es ganz so aus, als käme dieser genauso gewiss, wie das nächste pessimistische Buch Houellebecqs.
Ein genauer Brief
von Michel Houellebecq
Anfang Mai 2020, also als das Ende des ersten Lockdowns in Frankreich absehbar wurde, schickte Michel Houellebecq einen Brief an den Radiosender France Inter. Der darin enthaltende Aufsatz machte zwar die Runde, sorgte aber nicht für allzu großes Aufsehen. Es fehlten sozusagen die üblichen Highlights oder wenigstens das empörend Analytische. Halt all das, was den Denker sonst so auszeichnet. Aber genau dieser Umstand ist das, was die Zeilen ausmacht, denn da ist von einem „Virus ohne Eigenschaften“ die Rede und davon, dass die Pandemie trotz ihrer Gefahr „den seltsamen Eindruck eines Nichtereignisses“ in sich trägt. Daneben werden mögliche Veränderungen aufgezählt – wie etwa die fortschreitende Digitalisierung und damit einhergehend eine Entfremdung der Menschen untereinander.
Aber dann ist da doch noch etwas, ein im ersten Moment poetisch anmutender Verweis zum Tod an sich – also dem zentralen Thema der Pandemie. Dieser, also der Tod, sei nicht wiederentdeckt worden, sondern spiele sich nochmals mehr als bisher im Verborgenen ab. Houellebecq verweist hier darauf, dass nun ohne geringstes Zeugnis gestorben wird. Mehr noch, die Opfer sind einfach nur Zähler einer täglichen Todesstatistik.
Das alles macht den Literaten und Künstler selbst fassungs- und sprachlos, denn wenn der Mensch und sein Sterben nur noch ein Wert einer Statistik ist, dann gibt es letztlich keinen Menschen mehr. Der Verlust des Menschlichen, eigentlich „das“ Thema von Houellebecq, ist damit „endlich“ perfekt. Eigentlich bleibt da eine seltsame philosophische Frage im Raum: Möglicherweise gibt es das Nichts nicht, aber doch so etwas Ähnliches? Aber das ist Philosophie und daher stellt der literarische Chronist Michel Houellebecq diese „letztliche Frage“ dann lieber nicht. Typisch französisch? Peut-être.
Der Selbstmord der Moderne
In einem Gastbeitrag (August 2021) für die Welt mit dem Titel „Der Selbstmord der Moderne“ spricht Michel Houellebecq streng genommen von zwei Selbstmorden: Dem der Moderne wie auch dem seines Heimatlandes Frankreich.
Betrachtet man den Beitrag des Starliteraten nochmals strenger, dann ist dieser für houellebecqsche Verhältnisse erstaunlich emotional und irgendwie auch chaotisch (was irgendwie zusammenhängt).
Die Kernaussagen sind auf jeden Fall nicht zum Lachen: Da ist zum einen die Erwähnung des „Brief der Generäle“, welche die Nation vor einem Bürgerkrieg warnen. Das Bemerkenswerte daran ist laut Houellebecq jedoch schlicht der Umstand, dass niemand mehr in Frankreich ernsthaft bezweifelt, dass dieser Krieg tatsächlich eintreten wird. Später folgt dann auch der Verweis auf eine konkrete Umfrage hierzu und ja, es stimmt, 45 Prozent der Franzosen glauben an einen kommenden Bürgerkrieg. Pi mal Daumen rechnet man also in unserem Nachbarland mit dem Schlimmsten. Oder erhofft sich dort heimlich etwas von einem solchen Kriege. Schließlich führt man ja Kriege, um diese zu gewinnen.
Letzteres stimmt nicht ganz, denn schaut man auf die Niederlage des Westens in Afghanistan, dann kann man dort ebenfalls von einem politischen und militärischen Selbstmord sprechen. Das zumindest wäre ein Gedankengang, den man von Houellebecq an dieser Stelle erwarten würde. Aber weit gefehlt, diesem geht es in seinem Beitrag dann doch lieber um die französische Lust am Untergang und um die miserable Fertilitätsrate der Franzosen wie auch der Menschen im Westen allgemein.
Houellebecq tendiert seit geraumer Zeit zum Galgenhumor. Vielleicht wird er alt? Vielleicht wird der Westen alt? Vielleicht stimmt ja beides. Wie auch immer, gegen Ende seines Beitrags verweist der Franzose darauf, dass im öffentlichen Fernsehen Japans neuerdings Pornos gezeigt werden. Richtig, man erhofft sich insgeheim wohl eine bessere Fertilitätsrate.
Interview mit Michel Houellebecq
Der Autor im schweizer Fernsehen (2014).
Michel Houellebecq
Michel Houellebecq ist ein französischer Schriftsteller. In seinen Romanen beschreibt der Bestsellerautor detailliert und nüchtern die soziale Realität unserer Gegenwart. 1994 erlangte sein erster Roman „Ausweitung der Kampfzone” sofort internationale Bekanntheit.
Zumeist zeichnet der französische Bestsellerautor in seinen Werken das Bild einer oberflächlichen und narzisstischen Konsumgesellschaft. Insofern leiden seine Protagonisten nicht nur an einer ihnen eigenen Egozentrik, sondern auch an einer kontakt- und gefühlsgehemmten Gesellschaft. Diese inneren wie äußeren Mauern versuchen die Protagonisten zumeist durch sexuelle Ausflüchte zu durchbrechen, was jedoch nie zu einer echten Erfüllung führt. Diesem fast schon gnadenlosen Konzept folgt die sprachlich nüchterne Umsetzung, welche oftmals fast beiläufig wirkt.
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