Böse oder doch gut? Zumindest für den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy ist die Krise rund um Corona möglicherweise eine Folge unseres kapitalistischen Fortschrittsglaubens.

Allerdings kann dieser Glaube in Zeiten der Pandemie die Menschheit ins Unglück stürzen. Damit meint Jean-Luc Nancy die Zerstörung der Natur wie auch uns selbst – etwa in unseren unzähligen Kriegen. Der französische Philosoph führt zudem an, dass wir letztlich immer mehr zerstören. Auch können wir bei all der Zerstörung nicht mehr wirklich unterscheiden, was menschlichen und was natürlichen Ursprungs ist.

 

Wald mit Wanderern aus der Heimat von Philosoph Jean-Luc Nancy

Nach Jean-Luc Nancy: Ein gescheiterter Versuch namens Fortschrittsglauben

Nach Jean-Luc Nancy ist es seit der Renaissance das eigentliche Ziel der westlichen Welt, eine bessere Menschheit herzustellen. Dieser Vorgang kommt seines Erachtens mit dem Aufkommen der Coronakrise zu seinem Ende. Denn die Unterteilung in böse und gut ist unmöglich geworden. Zum Beispiel werden Mao, Stalin oder Hitler gemeinhin als böse bezeichnet. Dies aber ist bei heutigen Politikern schwieriger, denn sie alle geben sich als Demokraten aus, selbst wenn es bei genauerer Betrachtung ihr Regime nicht wirklich ist.

„Wir befinden uns inmitten eines Ozeans des Unbewussten. Es gibt enorm viele Dinge, die sich uns entziehen. Diese haben wir nicht im Griff.“

Jean-Luc Nancy

 Unsere Energie und das Böse

In den letzten Jahrzehnten haben die Menschen gelernt, dass ihr Umgang mit Energie böse an sich ist. Daher sind wir alle böse geworden, denn als Mensch kommt man nicht umhin, Energie zu verbrauchen. Selbst die Benutzung von Skype, um sich mit anderen Menschen zu unterhalten, ist dann ein Energie verbrauchender Vorgang – und damit ist der entsprechend handelnde Mensch schon wieder böse. Jean-Luc Nancy weist zudem darauf hin, dass wahrscheinlich seit der Antike das Bewusstsein der Menschheit noch niemals so durchdrungen von dem Gedanken war, dass etwas nicht stimmt.

 

Wald mit Kirche aus der Heimat von Philosoph Jean-Luc Nancy

Die Welt benötigt eher Geist

Jean-Luc Nancy spricht von einer langsamen Revolution. Unsere Haltung zur Existenz wird sich verändern. Selbst Marx sprach davon, dass eine geistlose Welt wiederum Geist benötigt – gibt er zu bedenken. Auch betont er, dass das Bewusstsein, das Sein bestimmt. Diese Erkenntnis erweitert der französische Philosoph in eine unerwartete Richtung: „Wir befinden uns inmitten eines Ozeans des Unbewussten. Es gibt enorm viele Dinge, die sich uns entziehen. Diese haben wir nicht im Griff.“

Schließlich erläutert er, dass der Tod als ein Teil des Systems bzw. Lebens anerkannt werden muss. Denn so wäre das Problem der Endlichkeit gelöst (und auch die eher unsinnige Panik hinsichtlich einer Pandemie). Der eigene Tod sorgt schließlich dafür, das andere den eigenen Platz einnehmen können. So aber würde die Welt leben. Wenn aber niemand mehr sterben würde, dann wären alle unerträglich aneinander gequetscht. 

 

Nach Jean-Luc Nancy schon da:
Das Ende der freien Gesellschaft

In einem indirekten Schriftwechsel (Anfang 2020) mit Agamben unterstreicht Nancy seinen Standpunkt, dass das Coronavirus medizinisch betrachtet wesentlich gefährlicher als eine Grippe ist. Andererseits gibt er jenen Gedankengängen des Italieners durchaus recht, welche darauf zielen, dass aktuell eine ganze Zivilisation in Frage gestellt wird. Er spitzt dessen Kritik an den Maßnahmen rund um Corona sogar nochmals zu, indem er nicht die Gefahr der einmaligen Ausnahme sieht, sondern den Umstand, dass ein Ausnahmezustand zur Regel wird. Letzteres nennt er einen „perversen Teufelskreis“.

Jean-Luc Nancy

Jean-Luc Nancy (* 26. Juli 1940) ist ein in der Tradition der Dekonstruktion und Phänomenologie stehender französischer Philosoph. Er lehrte an der Université Marc Bloch in Straßburg. Zudem hatte er in Berkeley, Irvine, San Diego und Berlin Gastprofessuren inne. Sein Werk ist äußerst vielfältig und reicht von Arbeiten zur Ontologie der Gemeinschaft über Abhandlungen zur Bildtheorie bis zu politischen und religiösen Aspekten im Kontext von gesellschaftlichen Entwicklungen.